Präventionskultur für Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz
Die Themen Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz gewinnen in einer modernen Arbeitswelt zunehmend an Bedeutung. Ein zentrales Konzept in diesem Zusammenhang ist die Präventionskultur. Unser Beitrag beleuchtet die wichtigsten Aspekte der Präventionskultur und stellt dabei einige wissenschaftliche Ansätze vor, um diesen abstrakten Begriff in Organisationen fassbar zu machen.
Was ist Präventionskultur?
Präventionskultur hilft dabei, ein gesamtheitliches Präventionskonzept in Firmen und Betrieben zu erreichen. Der Begriff umfasst die Gesamtheit aller Werte, Einstellungen und Verhaltensweisen von Menschen in einer Organisation, die darauf abzielen, Arbeitsunfälle und arbeitsbedingte Erkrankungen zu verhindern sowie die Gesundheit der Beschäftigten zu fördern. Ein zentraler Bestandteil ist daher auch das Setzen vorausschauender Maßnahmen zum Schutz von Gesundheit und Unversehrtheit (Cernavin & Diehl, 2017; Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung, 2024).
Warum ist Präventionskultur wichtig?
Präventionskultur bietet auf mehreren Ebenen Vorteile für Arbeitgeber*innen und Arbeitnehmer*innen. Aus Sicht der Mitarbeitenden kommt es zu einer Reduzierung von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten. Beschäftigte sind dadurch sowohl körperlich wie auch geistig belastungsfähiger. Innerhalb der Belegschaft kommt es zu einer geringeren Fluktuation und krankheitsbedingten Ausfällen. Studien zeigen zudem, dass Präventionskultur eine Reihe positiver Auswirkungen auf die Motivation und Arbeitszufriedenheit innerhalb der Gesamtorganisation hat (International Social Security Association, 2016; Marschall et al., 2017)
Nicht nur den Mitarbeitenden, sondern auch den Arbeitgeber*innen kommt eine bewusste Präventionskultur zugute. Durch eine erhöhte Arbeitszufriedenheit und weniger krankheitsbedingten Ausfällen kommt es zu Kosteneinsparungen. Nicht zuletzt setzt die betriebliche Präventionskultur die unmittelbaren gesetzlichen Vorgaben zum Arbeitsschutz um. Ein weiterer Nebeneffekt ist zudem die Steigerung der Attraktivität des Arbeitgebers nach innen wie nach außen (Berufsgenossenschaft Energie Textil Elektro Medienerzeugnisse, 2024; International Social Security Association, 2016; Marschall et al., 2017)
Prävention und Organisationskultur
Die Präventionskultur ist eng mit der Organisationskultur verknüpft und wird auch als Teilaspekt von ihr gesehen (Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin, 2022). Letztere bezeichnet übereinstimmend alle vorherrschenden Einstellungen, Werte und Normen, die innerhalb einer Organisation die Verhaltensweisen, Handlungen und Entscheidungen bestimmen (Engel & Göhlich, 2022).
Aus der engen Beziehung zwischen der Organisationskultur und der Präventionskultur ergibt sich somit eine starke Abhängigkeit. Was passiert beispielsweise, wenn gesundheitliche und sicherheitstechnische Themen der Mitarbeitenden keine Beachtung in der übergeordneten Organisationskultur finden? Die Forschung zeigt, dass es bei einem fehlenden Fokus auf Nachhaltigkeit sowie einer Vernachlässigung von Gesundheitsthemen am Arbeitsplatz zu negativen Konsequenzen für alle Beteiligten kommt (Marschall et al., 2017). Wie bereits festgestellt, kann dies in Abhängigkeit vom jeweiligen Tätigkeitsbereich unter anderem mit einem erhöhten Aufkommen an Berufserkrankungen, Verletzungen am Arbeitsplatz sowie drastischen Fluktuationen innerhalb der Belegschaft einhergehen.
Die Organisationsgröße stellt einen wichtigen Bezugsfaktor für die Präventionskultur der jeweiligen Organisation dar. Durch die Organisationsgröße ergeben sich diverse Herausforderungen und Möglichkeiten. Vereinfacht gesagt haben kleine Unternehmen den Vorteil von kürzeren Kommunikationswegen, welcher jedoch auch geringeren personellen und finanziellen Ressourcen gegenübersteht. Hingegen haben größere Unternehmen zumeist spezialisierte Fachabteilungen für Sicherheit und Gesundheit, brauchen aufgrund der Organisationsebenen jedoch länger, um Projekte umzusetzen (Kampe & Trimpop, 2023; Welz & Kluth, 2022).
So gelingt die Erfassung der Präventionskultur
In den vorherigen Abschnitten wurde der Begriff der Präventionskultur und seine Wichtigkeit aufgezeigt. Doch wie können Organisationen ihre Präventionskultur erfassen? Es gibt verschiedene Konzepte zu diesem Thema, eines davon stammt von der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (2022). Diese empfiehlt für verantwortliche Personen, sich innerhalb der Organisation mit den Bereichen Gefährdungsrahmung, Arbeitsschutzverständnis und Interaktionsfokus auseinanderzusetzen. Die systematische Erfassung ist notwendig, damit sich Organisationen vor der Umsetzung von Maßnahmen zur Förderung der Präventionskultur einen Überblick darüber verschaffen können, welche Bereiche bereits gut funktionieren und wo noch Verbesserungsbedarf besteht.
1. Gefährdungsrahmung
Die Gefährdungsrahmung beschäftigt sich mit Einschätzungen und Überzeugungen zur Beherrschbarkeit und dem Umgang mit Gefährdungen. Die Gefährdungswahrnehmung wird von verschiedenen Faktoren beeinflusst, die kognitiven, emotionalen, sozialen und kulturellen Ursprungs sein können. Vereinfacht gesagt, spielen hier vor allem die bestehenden Erfahrungen, das allgemeine Arbeitsklima, Einstellungen und Wissen der Mitarbeitenden eine große Rolle. Was bedeutet Gefährdungsrahmung nun also konkret für die betriebliche Praxis?
Stellen wir uns dazu einen Dachdeckerbetrieb vor. Nicht nur die Absturzgefahr stellt hier ein Problem dar, auch Stromleitungen und die Witterung sind mögliche Gefahrenquellen. Der Umgang mit diesen Belastungsquellen im Sinne der Gefährdungsrahmung beschäftigt sich damit, ob sich die Mitarbeitenden dieser Gefahren bewusst sind. Bin ich ausreichend abgesichert? Traue ich mir das zu? Habe ich genug Erfahrung? Kann mir notfalls jemand helfen? Diese Fragen sollten sich die Mitarbeitenden stellen, bevor sie gewisse Handgriffe übernehmen.
2. Arbeitsschutzverständnis
Das Arbeitsschutzverständnis beschäftigt sich damit, was im innerbetrieblichen Diskurs dem Themenbereich Arbeitsschutz zugerechnet wird. Im Fokus stehen hier sowohl technische Maßnahmen sowie das Verhalten der Beschäftigten. Das Zusammenspiel von organisatorischen, personenbezogenen und informativen Maßnahmen wird hier ganzheitlich betrachtet.
Am Beispiel der Dachdeckerei bedeutet das, zu beobachten, wie sich die Mitarbeitenden verhalten, nachdem sie sich mit den potenziellen Gefahren auseinandergesetzt haben. Haben sie ihre Sicherheitsausrüstung überprüft und Kolleg*innen um Absicherung gebeten?
3. Interaktionsfokus
Der Interaktionsfokus beschäftigt sich mit der Art und Weise wie innerbetrieblich über die Themen Sicherheit, Gesundheit und Prävention kommuniziert wird. Nicht nur der Inhalt, sondern die Art wie der Diskurs abläuft, ist von Relevanz.
Was bedeutet das für die Mitarbeitenden unserer Dachdeckerei? Können sie sich sowohl untereinander als auch mit ihren Führungskräften über die Arbeitsabläufe austauschen? Können sie jederzeit das Gespräch aufsuchen oder ist das erst nach Dienstende möglich, wenn Arbeitsthemen bereits in den Hintergrund gerückt sind? Was passiert bei Arbeitsunfällen? Werden diese gemeinsam aufgearbeitet oder stillschweigend zur Kenntnis genommen?
Von der Identifizierung zum Kulturtyp
Die zuvor beschriebenen Dimensionen zur Identifizierung der Präventionskultur (Gefährdungsrahmung, Arbeitsschutzverständnis und Interaktionsfokus) und die Typen der Präventionskultur von Schmitt-Howe und Hammer (2019) stehen in einem engen systematischen Zusammenhang. Die Dimensionen der Präventionskultur bilden dabei die Grundlage für die Identifikation der verschiedenen Kulturtypen, hingegen bilden letztere exemplarisch den Umgang einer Organisation mit den Themen Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz ab.
Dabei zeigt jeder Kulturtyp charakteristische Ausprägungen in den drei Dimensionen. Diese systematische Verbindung ermöglicht es Organisationen, ihre eigene Präventionskultur zu analysieren und gezielt Verbesserungspotenziale zu erkennen.
Typen der Präventionskultur
Basierend auf dem Modell von Schmitt-Howe und Hammer (2019) lassen sich also verschiedene Kulturtypen identifizieren. Die Kulturtypen sind eine vereinfachte Darstellung und sollen dabei helfen, schnell die Stärken und Schwächen der aktuellen Präventionskultur zu erkennen. Wie soll das gehen? Je nach vorherrschendem Kulturtyp kann laut Schmitt-Howe und Hammer (2019) auf bestehenden Ressourcen aufgebaut werden und zugleich können „blinde Flecken“ erkenntlich gemacht werden. Zu diesem Zweck wird zwischen fünf verschiedenen Typen unterschieden: Do-it-Yourselfer, Techniker, Fehlervermeider, Systematiker und Standardsetzer.
1) „Do-it-Yourselfer“
Arbeitsschutz wird überwiegend als eine Frage des individuellen Verhaltens angesehen. Es besteht die fälschliche Überzeugung, dass Gefährdungen basierend auf ihrer Eignung der Beschäftigten situativ abgewendet werden können. Do-it-Yourselfer finden sich am häufigsten in sehr kleinen Betrieben, in denen der Kontakt zwischen Führungsebene und Mitarbeitenden sehr eng ist.
2) „Techniker“
Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz wird als Folge technischer Ausstattung und Maßnahmen angesehen. Personenbezogene Faktoren werden weitgehend ausgeblendet und Unfälle oder Gefährdungen als etwas Unvermeidbares angesehen.
3) „Fehlervermeider“
Unfälle werden als unvermeidbar erlebt. Fehler sind die Folge von menschlichem Fehlversagen. Um sie zu verhindern, wird viel geschult und unterwiesen. Der Fokus liegt hierbei primär auf internem Dialog und präventiven Maßnahmen.
4) „Systematiker“
Gefährdungen werden als teilweise vorhersehbar erlebt und das notwendige Wissen dazu fließt in präventive Maßnahmen ein. Maßnahmen werden daher anhand von Kennzahlen durchgeführt und formale Prozesse sind vordergründig. Problematisch ist hierbei, dass nicht messbare Prozesse ausgeklammert werden.
5) „Standardsetzer“
Standardsetzer haben ein ausgeprägtes Bewusstsein für Arbeitsschutz, welcher über gesetzliche Anforderungen hinausgeht. Der Antrieb hierfür kommt aus der wahrgenommenen Verantwortung und Überzeugung, dass Prävention und Sicherheit grundlegende Voraussetzungen für ein Wohlbefinden am Arbeitsplatz sind. Die Belegschaft wird aktiv in den Dialog miteingebunden und ist an der Entwicklung neuer Maßnahmen maßgeblich beteiligt. Standardsetzer sind das best-practice Beispiel für andere Arbeitgeber*innen.
Auf den Punkt gebracht
Eine erfolgreiche Präventionskultur erfordert das Zusammenspiel verschiedener Faktoren. Die Integration bestehender Einzelmaßnahmen in ein übergeordnetes BGF-Konzept ist dabei ein entscheidender Schritt. Durch die systematische Verknüpfung von Maßnahmen und abteilungsübergreifender Zusammenarbeit können Synergien genutzt und die Effizienz gesteigert werden. Eine starke Präventionskultur zeichnet sich durch gemeinsame Werte, offene Kommunikation und das aktive Engagement aller Beteiligten aus. Der Erfolg zeigt sich nicht nur in verbesserten Gesundheits- und Sicherheitskennzahlen, sondern auch in höherer Mitarbeiter*innenzufriedenheit und gesteigerter Produktivität. Die kontinuierliche Weiterentwicklung der Präventionskultur bleibt dabei eine zentrale Führungsaufgabe, die das langfristige Engagement aller Organisationsmitglieder*innen erfordert.
Referenzen
- Berufsgenossenschaft Energie Textil Elektro Medienerzeugnisse. (2024). Gemeinsam zur Kultur der Prävention: So läuft es rund im Betrieb – Broschüre für Verantwortliche (MB039). BG ETEM.
- Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin. (2022). Präventionskultur gemeinsam weiterentwickeln: Ein Workshop. DOI: 10.21934/baua:praxis20211111
- Cernavin, O. & Diehl, S. (2017). Unternehmens- und Präventionskultur in der Arbeitswelt 4.0. In Springer eBooks (S. 189–230). https://doi.org/10.1007/978-3-658-17964-9_12
- Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung. (2024). Präventionskultur anschlussfähig fördern und nachhaltig etablieren (FBGiB-007). DGUV.
- Engel, N. & Göhlich, M. (2022). Organisationspädagogik: Eine Einführung. Kohlhammer Verlag.
- International Social Security Association. (2016). Präventionskultur: Ein dreidimensionaler Ansatz für Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit. ISSA.
- Kampe, J., & Trimpop, R. (2023). Präventionskultur etablieren als Herausforderung für KMU [PowerPoint slides]. DGUV Vision Zero.
- Marschall, J., Sörensen, J., Rieckhoff, S., & Schewina, K. (2017). Präventionskultur – Scoping Review: Nutzen von Präventionskultur und Möglichkeiten ihrer Gestaltung. IGES Institut.
- Schmitt-Howe, B., & Hammer, A. (2019). Formen von Präventionskultur in deutschen Betrieben. Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin. DOI: 10.21934/baua:bericht20180703
- Welz, T. & Kluth, K. (2022). Evolution of production culture and safety culture to a holistic safety-oriented production culture for SMEs. Zeitschrift für Arbeitswissenschaft, 77(3), 337–349. https://doi.org/10.1007/s41449-022-00345-3